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Wer früher stirbt ist länger tot
Der Fahrer drückt auf die Klötze und der Bus reduziert die Geschwindigkeit auf Schritttempo. Drei Sandsäcke signalisieren eine Baustelle. Am Wegrand hängt ein verwaschener Pappdeckel auf dem ich noch knapp …one lane entziffern kann. Ich strecke meinen Kopf durchs offene Fenster. Die Erkenntnis schlägt mir wie ein Fausthieb ins Gesicht: Unter mir klafft der Abgrund, vielleicht hundert Meter tief. Links erhebt sich ein Steilhang, vielleicht hundert Meter hoch. Dazwischen liegt die eingebrochene Strasse; gerade knapp nur sooooo breit, dass ein Personenwagen passieren kann.
Ich wage keine Bewegung und halte den Atem an. Ich schreite durch Dantes Inferno. In mir meldet sich panische Angst. Gefangen in einem verrosteten Sarg auf profillosen Rädern, auf bröckelndem Terrain, das langsam unter dem Gewicht des Fahrzeugs nachzugeben beginnt. Der Fahrer greift ganz kurz nach dem Rosenkranz mit Kruzifix am gespaltenen Rückspiegel. Ganz langsam bewegt sich der Bus wie in Zeitlupe vorwärts. Mir kommt die französische Produktion von 1953 Lohn der Angst mit Ives Montand in den Sinn. Damals ging es allerdings um Venezuela und den Transport von Nitroglyzerin. Unsere Lage ist jedoch auf andere Art genauso explosiv.
Unterdessen haben selbst die desinteressierten Pinoys im Bus gemerkt, dass etwas nicht ganz koscher ist. Die meisten haben ihre Musik ausgestöpselt und sind ruhig. Eine Mutter nimmt ihren Säugling an die Brust. Ja es ist still, fast wie in einer Kathedrale, nur der Dieselmotor tuckert und ein paar Hühner gackern in ihren Schachteln. Eine trügerische Ruhe breitet sich aus. Der Schaffner hängt in der Hocke auf dem untersten Tritt der Bustüre über dem Abgrund, beobachtet die Bodenhaftung und klopft mit einer Münze im Takt auf die rostige Karosserie. Das ist das Signal für den Fahrer, um kontinuierlich Zentimeter um Zentimeter weiterzurollen! Im Spiel zwischen Kupplung und Gaspedal muss er sich in der Königsklasse bewähren. Da gibt es keinen Plan B. Wenn's nicht klappt, sausen wir ungebremst in die Tiefe.
Ich sitze unmittelbar vor der Bustüre und verfolge jedes Detail aus nächster Nähe. Der vordere rechte Busreifen, greift nur noch auf halber Fläche auf festen Grund. Zehn Zentimeter Bodenhaftung entscheiden über Sein oder Nichtmehrsein. Wir warten auf die Rettung, wir warten auf den Tod. Wir bewegen uns im absoluten Schneckengang. Ein Raunen geht plötzlich durch den Bus. Die Leute an den Fenstern abgrundseits, haben nun vollumfänglich realisiert, was hier abläuft. Einige wollen aufstehen. Das Alphatier in mir erwacht und ich rufe lautstark durch den Bus: "What the fuck you’re standing up, remain seatet, stay where you are, dont move" Warum schreie ich in einer solchen Stresssituation eigentlich in Englisch und nicht in Schweizerdeutsch? Es kommt auf dasselbe raus. Es versteht mich keine Sau, aber die Leute wissen trotzdem was ich meine, denn sie leiten sinngemäss ab.
Ein altes Weib macht auf Panik und ich zeige ihr meine Faust und sie begreift schnell. Jetzt fehlt nur noch, dass so ein Scheisstourist nach dem Reiseleiter ruft. Da werde ich erstmals in meinem langen Reiseleben zum Meuchelmörder. "Jeder gehorcht, oder ich poliere ihm die Fresse“. Das habe ich allerdings nicht gesagt, sondern nur gedacht. Ich bin im höchsten Masse gestresst. Jede kleine Erschütterung oder Gewichtsverlagerung kann uns in den Tod reissen. Dann krachen wir runter wie das Klavier aus dem zehnten Stockwerk in der Nespressoreklame mit Georg Clooney. "God damn fuckn trail.“ Ich versuche flach zu atmen, aber mein Herz rast nur noch mehr. Dabei sind mir mein Vorhofflimmern und der arrhythmische Herzschlag an sich noch lästiger als sonst. Wenn ich in den Abgrund donnere, brauche ich keine Medikamente mehr. Und noch viel schlimmer, ich habe in meinem irdischen Leben die Pitcairn-Insel und das Yamswurzel-Erntedankfest auf den Trobrianden verpasst – meine zwei grössten verbleibenden Reisewünsche. "Verdammt noch mal lieber Gott, ich muss zuerst nach Papua-Neuguinea! Hast du das kapiert?! Herr, stehe mir bei und gönne mir das entscheidende Quäntchen Glück. Ich will später als Sieger verscharrt werden und nicht hier und jetzt unter solch widrigen Umständen!“ Kein Gebet wurde je von einem Ungläubigen inbrünstiger gesprochen und doch so leise gehaucht.
Ich klebe regungslos auf meinem Sitzplatz. Alles kommt mir wie eine kleine Ewigkeit vor. Ich glaube, ich verliere den Verstand. Eine mesmerisierende Bedrohung jagt durch mein Nervenkostüm, die schwarzen Härchen an meinen Armen stehen senkrecht an, ein Rinnsal warmen Schweisses perlt hinter dem Ohr in das T-Shirt. Hinter uns nähert sich ein anderes Fahrzeug. Es zeichnet sich langsam eine Überlebungschance ab, denn die Strasse wird vorne wieder etwas breiter, die Vorderachse ist bereits durch. Jetzt hängt unser Überleben noch einzig und allein vom rechten Hinterrad ab. Wenn nur das Ding im allerletzten Moment nicht abschmiert. Der Schaffner hat Nerven wie Stahlseile. Seine latenten Stärken treten jetzt im richtigen Moment hervor. Ein Mitarbeiterförderungs-Gespräch pro Jahr dürfte hier ausreichen. Wir achten konzentriert auf seine Klopfsignale. Er achtet nur noch auf das hintere rechte Rad und seine langsamen Umdrehungen. Jetzt wird auch der brüchige Engpass überwunden. Die Karre stabilisiert sich und kommt etwas zwanzig Meter nach dem Landslide zu stehen. Ich atme langsam auf und beginne an eine Kalbshaxe mit Steinpilzrisotto und eine Flasche Ribera del Duero zu denken. Die Welt wird wieder rosiger.
Die Leute klatschen und lachen. Den Fahrer und Schaffner betrachten sie als ihre Lebensretter. Die Wertschätzung hängt davon ab, welchen Wert man dem eigenen Leben beimisst. Ich bleibe bei unbewegter Miene ruhig und starr. Ein Fahrgast bietet Schaffner und Fahrer Zigaretten an und klopft ihnen auf die Schultern. Nach fünfunddreissig Jahren nehme auch ich erstmals wieder einen normalen Glimmstängel. Langsam und tief ziehe ich den Rauch in meine Lungen. Es ist, als hätte ich soeben den Untergang der Titanic hinter mich gebracht. Geschafft! Jetzt weiss ich, dass ich nie im Lotto gewinnen werde. Diese verdammte Strasse hat meinen gesamten Glücksbonus aufgebraucht. Das nächste Mal nehme ich besser einen Gaul. Aber immer noch lieber Strapazen, Not und Gefahr, als ein bequemes Strandleben und All-Inklusive-Touristen um mich herum.
Wir befinden uns auf dem Hanselma Mountain Highway in Nordluzon auf den Philippinen. Unser Weg führt nach Sagada zu den hängenden Särgen. Die Fahrt kann weitergehen. Pitcairn
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Der Fahrer drückt auf die Klötze und der Bus reduziert die Geschwindigkeit auf Schritttempo. Drei Sandsäcke signalisieren eine Baustelle. Am Wegrand hängt ein verwaschener Pappdeckel auf dem ich noch knapp …one lane entziffern kann. Ich strecke meinen Kopf durchs offene Fenster. Die Erkenntnis schlägt mir wie ein Fausthieb ins Gesicht: Unter mir klafft der Abgrund, vielleicht hundert Meter tief. Links erhebt sich ein Steilhang, vielleicht hundert Meter hoch. Dazwischen liegt die eingebrochene Strasse; gerade knapp nur sooooo breit, dass ein Personenwagen passieren kann.
Ich wage keine Bewegung und halte den Atem an. Ich schreite durch Dantes Inferno. In mir meldet sich panische Angst. Gefangen in einem verrosteten Sarg auf profillosen Rädern, auf bröckelndem Terrain, das langsam unter dem Gewicht des Fahrzeugs nachzugeben beginnt. Der Fahrer greift ganz kurz nach dem Rosenkranz mit Kruzifix am gespaltenen Rückspiegel. Ganz langsam bewegt sich der Bus wie in Zeitlupe vorwärts. Mir kommt die französische Produktion von 1953 Lohn der Angst mit Ives Montand in den Sinn. Damals ging es allerdings um Venezuela und den Transport von Nitroglyzerin. Unsere Lage ist jedoch auf andere Art genauso explosiv.
Unterdessen haben selbst die desinteressierten Pinoys im Bus gemerkt, dass etwas nicht ganz koscher ist. Die meisten haben ihre Musik ausgestöpselt und sind ruhig. Eine Mutter nimmt ihren Säugling an die Brust. Ja es ist still, fast wie in einer Kathedrale, nur der Dieselmotor tuckert und ein paar Hühner gackern in ihren Schachteln. Eine trügerische Ruhe breitet sich aus. Der Schaffner hängt in der Hocke auf dem untersten Tritt der Bustüre über dem Abgrund, beobachtet die Bodenhaftung und klopft mit einer Münze im Takt auf die rostige Karosserie. Das ist das Signal für den Fahrer, um kontinuierlich Zentimeter um Zentimeter weiterzurollen! Im Spiel zwischen Kupplung und Gaspedal muss er sich in der Königsklasse bewähren. Da gibt es keinen Plan B. Wenn's nicht klappt, sausen wir ungebremst in die Tiefe.
Ich sitze unmittelbar vor der Bustüre und verfolge jedes Detail aus nächster Nähe. Der vordere rechte Busreifen, greift nur noch auf halber Fläche auf festen Grund. Zehn Zentimeter Bodenhaftung entscheiden über Sein oder Nichtmehrsein. Wir warten auf die Rettung, wir warten auf den Tod. Wir bewegen uns im absoluten Schneckengang. Ein Raunen geht plötzlich durch den Bus. Die Leute an den Fenstern abgrundseits, haben nun vollumfänglich realisiert, was hier abläuft. Einige wollen aufstehen. Das Alphatier in mir erwacht und ich rufe lautstark durch den Bus: "What the fuck you’re standing up, remain seatet, stay where you are, dont move" Warum schreie ich in einer solchen Stresssituation eigentlich in Englisch und nicht in Schweizerdeutsch? Es kommt auf dasselbe raus. Es versteht mich keine Sau, aber die Leute wissen trotzdem was ich meine, denn sie leiten sinngemäss ab.
Ein altes Weib macht auf Panik und ich zeige ihr meine Faust und sie begreift schnell. Jetzt fehlt nur noch, dass so ein Scheisstourist nach dem Reiseleiter ruft. Da werde ich erstmals in meinem langen Reiseleben zum Meuchelmörder. "Jeder gehorcht, oder ich poliere ihm die Fresse“. Das habe ich allerdings nicht gesagt, sondern nur gedacht. Ich bin im höchsten Masse gestresst. Jede kleine Erschütterung oder Gewichtsverlagerung kann uns in den Tod reissen. Dann krachen wir runter wie das Klavier aus dem zehnten Stockwerk in der Nespressoreklame mit Georg Clooney. "God damn fuckn trail.“ Ich versuche flach zu atmen, aber mein Herz rast nur noch mehr. Dabei sind mir mein Vorhofflimmern und der arrhythmische Herzschlag an sich noch lästiger als sonst. Wenn ich in den Abgrund donnere, brauche ich keine Medikamente mehr. Und noch viel schlimmer, ich habe in meinem irdischen Leben die Pitcairn-Insel und das Yamswurzel-Erntedankfest auf den Trobrianden verpasst – meine zwei grössten verbleibenden Reisewünsche. "Verdammt noch mal lieber Gott, ich muss zuerst nach Papua-Neuguinea! Hast du das kapiert?! Herr, stehe mir bei und gönne mir das entscheidende Quäntchen Glück. Ich will später als Sieger verscharrt werden und nicht hier und jetzt unter solch widrigen Umständen!“ Kein Gebet wurde je von einem Ungläubigen inbrünstiger gesprochen und doch so leise gehaucht.
Ich klebe regungslos auf meinem Sitzplatz. Alles kommt mir wie eine kleine Ewigkeit vor. Ich glaube, ich verliere den Verstand. Eine mesmerisierende Bedrohung jagt durch mein Nervenkostüm, die schwarzen Härchen an meinen Armen stehen senkrecht an, ein Rinnsal warmen Schweisses perlt hinter dem Ohr in das T-Shirt. Hinter uns nähert sich ein anderes Fahrzeug. Es zeichnet sich langsam eine Überlebungschance ab, denn die Strasse wird vorne wieder etwas breiter, die Vorderachse ist bereits durch. Jetzt hängt unser Überleben noch einzig und allein vom rechten Hinterrad ab. Wenn nur das Ding im allerletzten Moment nicht abschmiert. Der Schaffner hat Nerven wie Stahlseile. Seine latenten Stärken treten jetzt im richtigen Moment hervor. Ein Mitarbeiterförderungs-Gespräch pro Jahr dürfte hier ausreichen. Wir achten konzentriert auf seine Klopfsignale. Er achtet nur noch auf das hintere rechte Rad und seine langsamen Umdrehungen. Jetzt wird auch der brüchige Engpass überwunden. Die Karre stabilisiert sich und kommt etwas zwanzig Meter nach dem Landslide zu stehen. Ich atme langsam auf und beginne an eine Kalbshaxe mit Steinpilzrisotto und eine Flasche Ribera del Duero zu denken. Die Welt wird wieder rosiger.
Die Leute klatschen und lachen. Den Fahrer und Schaffner betrachten sie als ihre Lebensretter. Die Wertschätzung hängt davon ab, welchen Wert man dem eigenen Leben beimisst. Ich bleibe bei unbewegter Miene ruhig und starr. Ein Fahrgast bietet Schaffner und Fahrer Zigaretten an und klopft ihnen auf die Schultern. Nach fünfunddreissig Jahren nehme auch ich erstmals wieder einen normalen Glimmstängel. Langsam und tief ziehe ich den Rauch in meine Lungen. Es ist, als hätte ich soeben den Untergang der Titanic hinter mich gebracht. Geschafft! Jetzt weiss ich, dass ich nie im Lotto gewinnen werde. Diese verdammte Strasse hat meinen gesamten Glücksbonus aufgebraucht. Das nächste Mal nehme ich besser einen Gaul. Aber immer noch lieber Strapazen, Not und Gefahr, als ein bequemes Strandleben und All-Inklusive-Touristen um mich herum.
Wir befinden uns auf dem Hanselma Mountain Highway in Nordluzon auf den Philippinen. Unser Weg führt nach Sagada zu den hängenden Särgen. Die Fahrt kann weitergehen. Pitcairn
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