Der Verdacht
Während Susan noch schlief, liess sich Frank die Ereignisse der letzten Nacht von Gong erklären. Sein Gesicht zog sich immer weiter in die Länge und er starrte Gong mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Dann schüttelte er den Kopf und stiess einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als er erfuhr, dass Susan wieder im Hotel war und schlief. „Mit dem Tod von Narbengesicht ist allerdings auch der Faden zu seinen Auftrag*gebern gerissen“, meinte Gong lakonisch. „Ich werde morgen mit Dietrich nach Mae Sot aufbrechen. Vielleicht finden wir die Spur im Umfeld der Hilfswerke wieder“, meinte er nicht ganz ohne Hoffnung.
„Im Moment gibt es für mich hier nichts zu tun“, meinte Frank. „Ich werde mit Ohn etwas durch Pattaya strolchen, so eine Art Schaufenster*bummel mit shopping durchziehen, bis Susan wieder wach ist.“ Gong nick*te ihm abwesend zu. Sein Gehirn arbeitete pausenlos und suchte nach Fakten, welche ihn auch ohne Narbengesicht wieder auf die Spur brin*gen könnten. Eine logische Lösung schien jedoch ausser Reichweite zu sein. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und begann von Neuem, die Fakten in einer anderen Reihenfolge zu ordnen und nach einem Hinweis zu suchen, den er bisher übersehen hatte.
Er wusste instinktiv, dass alle Informationen vorhanden waren. Nur, wo war der Hinweis?
Wütend riss er aus dem Wellnessprogramm des Hotels eine Seite heraus und listete auf der leeren Rückseite alle involvierten Personen der letzten drei Wochen auf. Er versuchte, jede auch noch so unwichtig erscheinende Person zu berücksichtigen. Dann zog er um jeden der Namen einen Kreis und vergewisserte sich sorgfältig, dass die Liste vollständig war. Er kon*zentrierte sich auf jeden der Namen und schrieb unter den Kreis die bereits bekannten Fakten.
Dann fing er an, jeden Namen in seinem Ge*hirn herumturnen zu lassen und versuchte, neben den reinen rationalen und bewertbaren Fakten auch Charaktereigenheiten und Aussagen aus Dialogen und Gesprächen mit einzubauen. Gesprächsfetzen und ver*schwommene Bilder tauchten vor ihm auf, zogen wie in einem Film an ihm vorbei und tauchten dann wieder ins Unterbewusstsein ab. Sobald der Faden riss, atmete er einige Zeit tief durch, schloss wieder die Augen und begann von Neuem, sich zu konzentrieren. Vorerst ohne die Bilder zu bewerten oder sie zu analysieren.
Er versank dermassen in die Rolle des Betrachters, dass er weder die Stimmen im Hintergrund wahrnahm, noch die Personen, welche geschäftig an ihm vorbeihuschten. Er war eins geworden mit jeder der Personen, welche durch sein Hirn geschleust wurden und sein Bewusstsein war so klar, wie wenn er in einen spiegelglatten See schauen würde.
Immer tiefer drang er mit der jeweiligen Person in sein Bewusstsein ein und längst vergessene Gespräche und Bildfetzen rasten vor seinem geistigen Auge vorbei. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, riss der Film ab und ein Blitz der Erkenntnis durchfuhr ihn. Er wusste nicht warum, und noch nicht einmal, woher die Erkenntnis kam.
Dem Blitz der Erkenntnis folgte unmittelbar ein Gefühl des Er*schreckens und der Ungläubigkeit. Die Konzentration fiel in sich zusam*men und zurück blieb das schale Gefühl eines Wissens, in welchem keine Zweifel mehr Platz hatten. Dann fuhr eine Welle der Ungläubigkeit über ihn und er versuchte, die Erkenntnis als Fehlleistung eines überanstreng*ten Gehirns darzustellen.
Der logische Verstand, welcher sein Denken nun wieder beherrschte, weigerte sich standhaft, die Lösung zu akzeptie*ren und suchte nach Fakten, welche dies belegen konnten. Verwirrt und erschöpft schüttelte Gong den Kopf. ,Wer hat nun Recht?‘ fragte er sich. ,Die Intuition oder der Verstand? Mein Leben ist geprägt von stetiger Gefahr. Die Intuition hat mir mehrmals dazu verholfen, dass ich instink*tiv die richtige Entscheidung getroffen habe und überleben konnte. Trotz*dem ist das Ergebnis fast unglaublich!‘, sagte er sich.
Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen beschloss er, sich einige Stunden auszuruhen. ,Die Jagd hat begonnen!‘, murmelte er leise vor sich hin. Im Zimmer angekommen schloss er die Türe sorgfältig ab und legte sich hin. Längere Zeit konnte er nicht einschlafen. Dann fiel er in einen unruhigen, nervösen Schlaf, in welchem sich die Bilder der letzten Nacht mit Bildern einer fiktiven Zukunft mischten. Der losgelöste Geist zeigte ihm einen surrealen Film, aus welchem er einige Stunden später schweiss*überströmt erwachte. Es dauerte einige Augenblicke, bis er bemerkte, dass sein Handy klingelte. Eher erschöpft denn erholt, meldete er sich und verstand zuerst kein Wort. Jörgen war am anderen Ende der Leitung. Er sprach nervös und wirr, verhaspelte sich laufend. Immer wieder wie*derholte er, dass Gong sich unbedingt seine Recherchen ansehen muss.
„Ich komme sofort“, versprach ihm Gong schlaftrunken und hängte dann auf. Er ging einige Minuten unter die kalte Dusche und genoss das Gefühl, als wieder frisches Leben in ihn einströmte und seine Gedanken klar strukturiert zu fliessen begannen. Mit seinem elastischen, kraftvollen Schritt lief er durch die Hotellobby. Ihn kamen Frank und Ohn mit Plastik*tüten in der Hand entgegen, die gerade ihren Einkaufsbummel beendet hatten. „Wohin des Weges, Fremder?“, begrüsste ihn Frank mit einem Lachen, welches sofort erstarb, als er in das Gesicht von Gong schaute.
Ohne einen Blick auf Frank und Ohn zu werfen, verliess Gong das Hotel. Frank schaute Ohn irritiert an, verzog seinen Mund und streckte den Kopf leicht nach vorne. Dann zog er die Schultern hoch.
„Man, hat der eine tolle Laune!“, staunte Frank. Ohn lachte auf, als sie sein enttäuschtes Gesicht sah und strich ihm zärtlich über die Wangen. „Lass uns hier unten etwas trinken und dann schauen wir uns die Fotos an, die Du in den letzten Tagen geschossen hast.“ Sie lief zielsicher an einen freien Tisch, setzte sich und winkte Frank fröhlich lachend an den Tisch. Frank runzelte kurz die Stirne, schüttelte dann den Kopf, trottete nachdenklich zum Tisch und bestellte sich ein grosses, kaltes Bier. „Las*sen wir uns von Herrn Griesgram nicht die Laune verderben“, brummte er.
Aus einer der Plastiktüten zog er verschiedene Umschläge hervor, schaute kurz in jeden hinein und sortierte sie in der richtigen, zeitlichen Reihenfolge. „Los geht’s“, meinte er unternehmungslustig. Im gleichen Augenblick sah er, wie eine bleiche Susan mit Nok aus dem Lift stieg und ihren Blick in der Lobby herumschweifen liess.
Als sie Frank und Ohn an ihrem Tisch sitzen sah, umspielte ein leich*tes, gequältes Lächeln ihren Mund und sie winkte ihnen kraftlos zu. Frank und Ohn schauten sie besorgt und voll Mitleid an. Mit müden, unsiche*ren Schritten erreichte sie den Tisch und setzte sich umständlich auf ei*nen Stuhl. Ihre Brandwunden waren unter einem dicken Pflaster ver*steckt, ihr Blick nach innen gekehrt und um ihre geschwollenen, verwein*ten Augen zogen sich dunkle Ringe. Unsicher und hilflos fragte Frank sie nach ihrem Befinden. „Es wird schon wieder“, meinte Susan nur und bemühte sich, tapfer zu lächeln.
Doch dieses Lächeln geriet zu einer Gri*masse und die Angst war noch immer klar in ihren Augen zu erkennen. Frank schaute betreten auf die Umschläge vor sich und wusste nicht weiter. Susan spürte seine Unsicherheit.
„Du Held hast natürlich wieder alles wieder verpennt“, grinste sie ihn kaum merklich sichtbar an. Das Eis war gebrochen. „Vielleicht könntest Du Dich ja auch einmal zu einer etwas christlicheren Tageszeit entführen lassen“, witzelte Frank ohne Elan zurück. Er stand dabei auf und um*armte Susan zärtlich. „Mach’ nie wieder so ‘was“, flüsterte er ihr zu. Sus*an genoss den Moment der Geborgenheit und drückte sich mit aller Kraft an Frank. Mit besorgter Miene legte Ohn die Fotos wieder in die Plastik*tüte, als Susan neugierig nachfragte. „Wir haben die Fotos von Frank entwickeln lassen“, erklärte Ohn. „Aber ich denke, dass dies nicht gerade der günstigste Zeitpunkt ist“, meinte sie mit einem verlegenen Lächeln.
„Ich würde sie mir gerne anschauen,“ erwiderte Susan tonlos aber gefasst. „Seit ich mir bewusst geworden bin, dass Narbengesicht tot ist, hat Vieles seinen Schrecken verloren“, beruhigte sie Ohn, welche sie mit Sorgenfalten auf der Stirne musterte. Susan schaute Nok dankbar an, welche sich neben sie gesetzt hatte und streichelte zärtlich ihre Hand. Nok blickte etwas verlegen zur Seite aber in ihren Augen erschien ein leuchtendes Schimmern, das deutlich zeigte, wie sehr sie diese Dankbar*keit genoss.
Mit ausrucksloser Miene betrachtete Susan die Bilder vom ersten Umschlag. Hin und wieder fragte sie Frank, wo er das eine oder andere geschossen hatte. Als sie den Umschlag mit den Bildern aus Mae Sot öffnete, huschte kurz ein zärtlicher Ausdruck der Liebe über ihr Ge*sicht. Lange betrachtete sie das Bild, welches sie gemeinsam mit Klaus zeigte. Sie versuchte, ihre Gefühle zu erforschen, welche aus ihr hervor*brachen und sie wie ein Strom zu überschwemmen drohten.
Die reine und klare Liebe, welche sie in Mae Sot und später in Umphang für Klaus empfand, war nun Bestandteil einer Gefühlsmischung, in wel*cher der Schmerz und das Leiden der letzten Wochen eingebunden wa*ren. Die Gefühle, welche in ihr hochstiegen, erschreckten sie und sie wur*de sich schmerzlich bewusst, dass es noch längere Zeit dauern würde, bis sie die Ereignisse verarbeitet hatte.
Verunsichert legte sie das Bild weg und versuchte, sich auf die nächsten Bilder zu konzentrieren. Sie überleg*te sich einige Sekunden, ob sie die Bilder nicht doch überfordern könn*ten. ,Später in Umphang hat Frank noch einmal Bilder mit Klaus und mir im Kerzenlicht geschossen‘, erinnerte sie sich und sie fragte sich, ob sie das durchsteht. Doch als sie das nächste Bild gedankenverloren betrach*tete, verschwanden die melancholischen Gedanken, um einem Glucksen und dann einem lauten Lachen Platz zu machen. „Du Schwein!“, fauchte sie Frank an, als sie ihr wütendes Gesicht auf dem Bild sah. Frank noch immer etwas unsicher, schaute sich das Bild besorgt an und grinste.
Das Bild zeigte Susan, als sie auf ihrem Moped sass und kein Benzin mehr hatte. Mutig geworden, schaute sie sich die weiteren Bilder an, wel*che von tiefen Gefühlswellen begeleitet wurden, welche sich immer wieder überschlugen und in Bruchteilen von Sekunden wechselten. Susan spür*te, dass einige der Bilder Narben in ihr aufrissen, welche noch nicht ver*heilt waren. Gleichzeitig wurde es ihr jedoch klar, dass dieser Vorgang mithalf, die Verarbeitung voranzutreiben. Scheinbar Vergessenes brach wieder auf und wühlte sie heftig auf.
Plötzlich begann Susan an zu zittern und ihre Augen weiteten sich. Ein kurzer Schrei, fast mehr ein Krächzen hallte unheilschwanger durch die Empfangshalle. Das bereits bleiche Ge*sicht wurde noch eine Spur heller und die Augen schauten starr und un*gläubig auf das Bild vor ihr. Die Welt schien sich um sie zu drehen und sie glaubte, ohnmächtig zu werden.
Dann erstarrte sie, wie wenn sie von einem eisernen Griff umfasst würde. Das Bild fiel zu Boden. Susans Augen schienen der Welt entrückt.
Sie stand unsicher auf und torkelte mit den Händen rudernd in Richtung Lift. Der Atem war ihr wie abgeschnürt und die Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Nok sprang sofort zu ihr und stützte sie. Sie führte die heftig zitternde Susan zum Lift und wenig später lag Susan auf ihrem Bett und zitterte noch immer, wie wenn Fieberschübe wie Stromstösse durch ihren Körper schossen. Nok schmiegte sich eng an die unkontrol*liert zuckende Susan und drückte sie fest an ihren Körper.
In der Lobby betrachtete Frank lange Zeit nachdenklich das Foto, bei welchem Susan völlig die Fassung verloren hatte. Er grübelte längere Zeit, fand aber kei*ne Lösung, warum genau dieses Bild eine derartige Reaktion bei Susan auslösen konnte. „Das Ganze war wohl doch zuviel für sie“, sagte er zu Ohn und legte das Bild wieder in den Umschlag zurück. „So einen be*schissenen Urlaub gönne ich nicht einmal meinen ärgsten Feinden“, meinte er noch, schüttelte dann den Kopf, wie wenn er einen bösen Geist ver*treiben wollte und bestellte sich noch ein Bier.
Gong überlegte sich die ganze Fahrt, was wohl der Grund sein könnte, dass Jörgen ihn so schnell sehen wollte. ,Sicher hat er etwas auf den Bil*dern entdeckt‘, hoffte er, als er den Wagen vor dem Haus von Jörgen abstellte. Jörgen erwartete ihn bereits nervös mit wild gestikulierenden Händen und einem aufgeregten roten Gesicht. „Ich habe etwas entdeckt!“, flüsterte Jörgen und in seinen Augen funkelte der Entdeckerstolz.
Die Frage nach dem, was er entdeckt hatte, brannte Gong förmlich auf der Zunge. Er folgte Jörgen jedoch äusserlich ruhig und scheinbar gelassen ins Haus. Während sie die Treppe zum Büro von Jörgen hinaufstiegen, kehrte dieser sich immer wieder um, funkelte Gong wissend an und nickte dabei vielsagend. Die Neugier frass Gong mittlerweile fast auf und er hoff*te inbrünstig, dass Jörgen wirklich einen Durchbruch geschafft hatte und seine intuitive Spur konkret belegbar wurde.
So wie Gong den rationalen Kopfmenschen Dietrich einschätzte, war er überzeugt, dass er seine intuitive Gefühlsspur nicht gerade mit Begeiste*rung aufnehmen würde. Mit wichtiger Miene setzte sich Jörgen an den Computer und klickte auf seinem Schirm herum. Kurz darauf erschie*nen die Bilder, welche Susan im Schloss geschossen hatte. „Auf den ers*ten Blick ist nichts für uns Relevantes zu sehen“, erklärte Jörgen. Das Geniale an diesem Programm ist jedoch, dass wir das Bild mehrmals vergrössern können und das Program die Lücke sofort nachrechnet. Gong verstand Bahnhof und schaute Jörgen fragend und drängend an.
„Es ist eine ungeheure Rechenleistung nötig, damit ich das hinkriege“, fuhr Jörgen unbeeindruckt fort. „Es bedeutet nichts weiter, als dass ich nun Ausschnitte aus dem Bild vergrössern kann, ohne dass ich einen Qualitätsverlust erleide. Wenn du auf dem Originalbild genau schaust, erscheint nach der zweiten Vergrößerung eine etwas verschwommene Person hinter dem Fenster. „Tatsächlich!“, entfuhr es Gong und nervös rückte er den Stuhl näher an den Computer heran. „Das Programm kann die verschwommene Gestalt logisch nachrechnen und schärfen.
Die In*telligenz in der Software gleicht den Qualitätsverlust automatisch, wenn auch nicht zu hundert Prozent wieder aus.“ Jörgen dozierte wie ein Uni*versitätsprofessor. Gong lachte trotz der nun beinahe explosiven Stimmung, in welcher er sich befand, nervös auf.
„Die ganze Rechnerei habe ich heute Morgen bereits erledigt und ich zeige Dir nur die einzelnen Schritte, damit das Resultat für Dich nachvoll*ziehbar ist“, legte Jörgen wieder los. Er klickte ein Bild nach dem nächs*ten an. Tatsächlich wurde die Gestalt immer deutlicher sichtbar und die Konturen etwas klarer. „Jedes Bild wurde immer wieder neu gerechnet und angepasst und jetzt zeige ich Dir das letzte, auf welchem nur noch der Kopf des Manne sichtbar ist.“ Theatralisch wartete Jörgen noch eini*ge Sekunden und klickte dann auf das letzte verfügbare Bild.